Obwohl die Losfee mir nicht hold war und ich mir geschworen hatte, nicht mehr als den Originalpreis zu bezahlen stand ich am 26.08.12 zum zweiten Mal am Start in Sölden. Bedanken darf ich mich in diesem Zusammenhang bei Günter aus dem Quaeldich-Forum, der mir den Startplatz zum Selbstkostenpreis übertragen hatte. Die Vorbereitung war bis März so gut wie noch nie gelaufen. Von April bis Mitte Juni war ich dann aus privaten Gründen zeitlich sehr eingeengt. Dafür glotzte ich für meine Verhältnisse die letzten 2 Monate noch mal richtig ran. So hatte ich von 01.01.12 an insgesamt 5.300 km und über 60.000 hm gesammelt. Die Anfahrt nach Sölden am Samstag verlief mal wieder sehr stauintensiv. Trotzdem kam ich bereits am frühen Nachmittag in Sölden an. Ich hatte kurzfristig noch ein Zimmer im Haus Jaqueline in Sölden bekommen, was sich als gute Wahl herausstellte. Entgegen der Wetterprognosen, die in den Tagen davor reichlich Regen gemeldet hatten, war es in Sölden trocken. Trotzdem beschränkte ich mich aufs Abholen der Startunterlagen und verzichtete auf eine Runde Radfahren. Im Nachhinein betrachtet, war dies vielleicht ein Fehler. Ich fühlte mich den ganzen Tag über nicht richtig fit, irgendwie war der Kreislauf im Keller und ein wenig Radfahren hätte mir wahrscheinlich gut getan. Abends gönnte ich mir in der Freizeitarena noch das Pasta und Kartoffelbuffet und ging dann früh zu Bett.
Um 4:30 Uhr endete die Nacht dann schon. Immerhin hatte ich gut geschlafen. Mein erster Weg ging auf den Balkon und ich war hocherfreut. Es regnete nicht und ich konnte teilweise Sterne sehen. Ich ging gemütlich frühstücken und packte meine Sachen. Meine Wahl fiel neben der kurz/kurz Variante auf Knielinge, Windweste, Überschuhe und lange Handschuhe. Außerdem hatte ich unter dem Sattel noch meine Regenjacke verstaut. Ansonsten war mein Trikot mit 7 Gels und 7 Riegel gefüllt. Im Gegensatz zum letzten Jahr wollte ich dieses Mal mit möglichst wenigen Standzeiten auskommen. So ausgerüstet rollte ich um kurz vor 6 Uhr zum Start. Ich stand dieses Mal wesentlich weiter vorne als 2010 etwa auf Höhe der Kirchfeldstrasse und dürfte gut 500 Fahrer vor mir gehabt haben. Am Start war schon einiges an Hektik vorhanden. Zum einen mussten bereits hier einige ihre Reifen flicken, weil wohl beim Zugang zum Startbereich Glasscherben herumlagen. Zum anderen hielt sich das Gerücht, dass der Brenner aufgrund eines Erdrutsches gesperrt sei. Als ich das hörte, war meine Laune komplett im Keller. Hier und heute eine Alternativroute fahren zu müssen ging mal gar nicht. Der Sprecher am Start beruhigte die Teilnehmer aber kurze Zeit später. Die Feuerwehr war bereits im Einsatz und zumindest eine Spur würde frei sein, bis wir den Brenner erreichen würden. Mir fiel ein Stein vom Herzen.
Dann ging es los. Zu meiner Enttäuschung nicht zu den Klängen von Hells Bells sondern zu Tage wie dieser von den Hosen. Die Abfahrt nach Ötz verlief wie schon 2010 problemlos. Um mich herum wurde jedenfalls rücksichtsvoll gefahren und es gab keine brenzligen Situationen zu überstehen. Leider verabschiedete sich nach einer Viertelstunde mein Puls. Diese Probleme hatte ich auch auf den letzten Fahrten schon und hatte extra noch den Pulsgurt und alle Batterien getauscht. Scheinbar ohne Erfolg. Jetzt musste ich also rein nach Gefühl fahren. Nach 39 min überquerte ich die erste Zeitmessung nach dem Kreisverkehr in Oetz und damit lag ich auf die Minute genau im Plan. Dieser sah eine Zielzeit von 9 Stunden vor. Nachdem ich 2 Jahre zuvor 9:31 gefahren war, erschien mir dies das einzig sinnvolle Ziel. Mir war aber schon klar, dass dazu alles passen musste. Vor allem durften mir dabei aber keine Mauern in die Quere kommen. Aber dazu kommen wir später. Erstmal galt es den ersten Pass des Tages das Kühtai zu bewältigen.
Die ersten knapp 9 Kilometer sind sehr unrhythmisch zu fahren, mit 8% im Schnitt aber schon richtig steil. Hier merkte ich schon, dass ich deutlich weiter vorne gestartet war als 2010. Im Gegensatz zu damals, überholte ich weit weniger Fahrer und wurde teilweise auch überholt. Ich konnte demnach auch nicht stur auf der linken Seite fahren sondern musste schon ein wenig aufmerksam sein. Denn hier am ersten Pass war natürlich noch jede Menge los. Trotzdem konnte ich eigentlich immer mein eigenes Tempo fahren. Allerdings hatte ich irgendwie kein richtig gutes Gefühl. Es lief einfach nicht so locker wie erhofft. Nach wenigen Kilometern musste ich das erste Mal anhalten. Bei Schalten in einem Steilstück auf das größte Ritzel fiel mir die Kette runter. Das Problem war in ein paar Sekunden behoben. Trotzdem regte ich mich darüber auf. Vor allem weil mir das in der letzten Woche schon mal passiert war und es auch nicht das letzte Mal an diesem Tag war. Vor dem Wettkampf die Schaltung noch mal justieren wäre also clever gewesen. Nach etwa 80 Minuten erreichte ich das ca. 3 Kilometer lange Flachstück am Ochsengarten und war froh darüber, mal ein wenig durchzuschnaufen.
Dann folgte das härteste Stück des Anstieges. Fast einen Kilometer mit über 14% im Schnitt bremsten mich deutlich ein. Die Geschwindigkeit sank jetzt natürlich unter 10 km/h. Gut nur, dass man hier noch kaum Kilometer in den Beinen hat. Und so überstand ich das Steilstück einigermaßen schadlos. Es folgten 2 etwas flachere Kilometer ehe es noch mal für einen Kilometer steil wurde. Dann trennten mich nur noch 2 fast flache Kilometer von der Passhöhe, die allerdings mit zwei kurzen Steilstücken garniert sind. Das zweite flache Teilstück nutzte ich um einen Riegel zu essen. Nach 1:52h erreichte ich die Passhöhe. Auch hier lag ich voll im Plan, machte mir aber schon ein wenig Sorgen, ob ich den Puls nicht zu hoch getrieben hatte. Jetzt hieß es möglichst schnell Wasserflaschen füllen und weiter. Dies ging überraschend schnell. Ich musste meine Flaschen nicht mal selbst füllen. Kurz abgegeben, währenddessen meine Mischung aus High5 Zero und herkömmlichen Kochsalz rausgeholt, gefüllte Wasserflaschen zurückerhalten, Pulver eingemischt noch schnell ein Gel reingezogen und weiter ging es. Pause knapp 2 min, wie geplant!
Die Abfahrt vom Kühtai war diesmal sehr gut zu fahren. Kein störender Wind bremste die Fahrt und Kurven sucht man auf der Abfahrt nach Kematen ohnehin vergeblich. Lediglich bei den beiden Galerien im oberen Teil ist Vorsicht geboten, vor allem weil davor und danach Weidegitter angebracht sind. Fährt man aber schnurgerade darüber, stellen sie kein Problem dar. Außerdem verhindern sie, dass man dort auf Kühe trifft. Ansonsten ist damit nämlich auf der ganzen Abfahrt zu rechnen. Bald erreichte ich das berühmte Steilstück vor Gries. Da ich kaum Fahrer vor mir hatte, konnte ich es richtig laufen lassen. Ein kurzer Blick auf den Tacho zeigte 92 km/h an, Tendenz noch leicht steigend. So schön der Rausch der Geschwindigkeit aber auch ist, eigentlich sollte man sich den Blick auf den Tacho hier sparen. Bei fast 100 km/h legt man in einer Sekunde fast 30 Meter zurück. Zuviel um die Strecke im Blindflug zu absolvieren. Kurz darauf erreichte ich Sellrain und jetzt war es bereits wichtig, eine Gruppe für das Flachstück nach Innsbruck zu finden. Das gelang ohne Probleme und so rollte ich mit etlichen Mitstreitern und einer ordentlichen Geschwindigkeit nach Innsbruck. Hier begann es dann plötzlich zu regnen. Während die meisten das wohl nicht so prickelnd fanden, freute ich mich darüber. Da ich immer noch meine Knielinge anhatte, war es mir eigentlich zu warm. Der Regen brachte mir nun erstmals die von mir so geliebte Kühle auf die Oberschenkel. „Von mir aus kann es den ganzen Brenner hoch weiterregnen“, dachte ich mir.
Dem war aber nicht so. Noch bevor der Anstieg richtig begann, war der Spuk vorbei. Ich zog meine Knielinge jetzt nach unten um ein wenig mehr Kühlung zu erhalten. Der Anstieg war eigentlich gut zu fahren, wirklich steil wurde es nie. Trotzdem fühlte ich mich auch hier nicht wirklich gut. Wenigstens hatte ich eine passable Gruppe die ein ordentliches Tempo fuhr. Jedenfalls war ich deutlich schneller unterwegs, als 2010 als ich mich beim Anstieg fast gelangweilt hatte. Mein Plan sah eigentlich vor, nur auf den Passhöhen zu essen. Aber jetzt machte sich früher als erwartet Hunger breit. Auf dem fast flachen langen Teilstück vor Matrei gönnte ich mir daher einen Riegel und ein Gel. Für kurze Zeit fühlte ich mich danach besser. Das Gefühl sollte aber nicht lange halten. Ich unterhielt mich gerade mit einem Mitstreiter als vorne das Tempo erhöht wurde. Unsere Gruppe war inzwischen auf über 100 Rennradfahrer angewachsen. Durch die Tempoverschärfung an der Spitze der Gruppe teilte sich diese nun. Mit etwas Mühe gelang es uns aber, an der ersten Gruppe dranzubleiben. Der Rest des Anstieges wurde jetzt sehr unrhythmisch gefahren und so verbrauchte ich wieder einmal mehr Körner als mir lieb war. Nach 3:54h erreichte ich die Passhöhe und lag damit 2 Minuten vor meinem Plan. Auch hier füllte ich nur schnell meine Wasserflaschen und nahm noch ein Gel zu mir.
Nach 2 Minuten saß ich schon wieder auf dem Rad. Auch die Abfahrt vom Brenner verlief problemlos und ich hatte auch hier das Gefühl, dass ich bergab weitaus besser unterwegs war als 2010. Damals war ich auf allen Abfahrten mehrheitlich überholt worden. Dementsprechend lag ich auch am Anstieg zum Jaufenpass noch im Zeitplan. Der Anstieg verlief dann überraschend gut. Ich bewegte mich hier weitgehend mit der Masse. Mal wurde ich überholt, mal fuhren einige an mir vorbei. Ich hatte ein für mich angenehmes Tempo gewählt und fuhr oft auf dem größten Ritzel um möglichst hohe Frequenzen zu fahren. Der Anstieg ist ansonsten ziemlich langweilig zu fahren. Fast ausschließlich im Wald verlaufend, ändert sich das Bild kaum. Kurz vor der Passhöhe rutschte mir dann wieder beim Versuch den kleinsten Gang einzulegen die Kette vom Ritzel. Es war natürlich kein Problem die Kette wieder aufs Ritzel zu ziehen. Trotzdem machte ich mir ein wenig Sorgen. Am Timmelsjoch würde ich das größte Ritzel öfters brauchen. Dann hatte ich keine Lust, mir ständig Sorgen darüber zu machen, ob die Kette nicht hinten überfällt. Aber zunächst einmal erreichte ich die Verpflegungsstelle unterhalb der Jaufenpasshöhe. Hier brauchte ich ein wenig länger, bis ich meine Wasserflaschen gefüllt hatte und nutzte die Zeit um ein wenig Süßes an der Labe zu essen. Nach fast 3 Minuten ging es weiter.
Auf dem letzten Stück zur Passhöhe versuchte ich noch einen Riegel zu essen. Ich brauchte aber ewig, bis ich unter heftigem Schnaufen und nur gelegentlichem Kauen den Riegel endlich unten hatte. Oben war die nächste Zeitnahme und ich war erstmal zufrieden. Ich lag mit 5:39 h immer noch 1 Minute vor meinem Plan und hatte noch keine Anzeichen von Krämpfen. Dies war bei fast all meinen bisherigen Marathons der leistungslimitierende Faktor gewesen. Jetzt galt es erstmal die nicht ganz ungefährliche Abfahrt zu überstehen. Viele Längsrillen im Asphalt und fast genauso viele Kurven sind die Merkmale der Jaufenabfahrt. Genau diese Kombination sollte mir nur wenig später zum Verhängnis werden. Zunächst lief noch alles ganz gut. Ich hatte einige Fahrer vor mir und kein Problem ihr Tempo mitzugehen. Allerdings fuhr der Fahrer vor mir die Kurven recht seltsam an und zwang mich so immer wieder zu unnötigem Bremsen. Vielleicht hätte ich das einfach schlucken sollen und weiter hinter ihm herfahren. Ich entschied mich aber dagegen und überholte ihn auf einer der wenigen langen Geraden.
Jetzt konnte ich mein eigenes Tempo und vor allem meine eigene Linie fahren. Vor und hinter mir war nach kurzer Zeit niemand zu sehen. Doch dann nahm das Unheil seinen Lauf. Nach knapp 7 km fuhr ich zunächst geradewegs in eine Längsrille die sich in der Mitte der Strasse befand. Es rüttelte mich ordentlich durch und ich war überrascht, dass mein Vorderrad das Ganze ohne Schaden überstanden hatte. Trotzdem war die Aktion ärgerlich. Vor 2 Jahren war ich vor dem Ötztaler Radmarathon die Strecke mit Rucksack in zwei Tagen gefahren und hatte danach im Tour-Forum meine Einschätzung zur Strecke gegeben. Damals hatte ich explizit vor den Längsrillen in der Fahrbahnmitte gewarnt und empfohlen entweder rechts oder links zu fahren. Hätte ich mich nur an meine eigene Empfehlung von damals gehalten. Während ich also noch während der Fahrt auf mein Vorderrad starrte, kam die nächste Kurve. Erst nach rechts, dann eine langgezogen Linkskurve, die immer enger wurde. Ich war zu der Zeit immer noch unkonzentriert und fuhr die Kurve falsch an. Vergeblich versuchte ich dann zu korrigieren. Aber wenn man eine Kurve mal falsch angefahren hat, ist korrigieren nur schwer möglich. Ich bremste zwar und versuchte mich noch mehr in die Kurve zu legen. Beides führte aber dazu, dass mir zweimal das Hinterrad leicht wegrutschte. Nur mit Glück konnte ich auf dem Rad bleiben. Trotzdem hatte ich bis zum Schluss noch Hoffnung, die Kurve gerade so zu kriegen. Doch am Ende fehlten mir wohl 50 cm Strasse.
Ich touchierte mit der rechten Schulter heftig die Mauer, welche den Hang auf der rechten Seite absicherte. Dadurch verdrehte sich mein Oberkörper und ich knallte mit dem Kopf ebenfalls in die Mauer, glücklicherweise mit dem Helm voraus. Wie ich später am Helm feststellte, fehlten allerdings nur 2-3 Zentimeter und ich hätte mit dem Gesicht gebremst. An das Folgende kann ich mich ehrlich gesagt gar nicht mehr erinnern. Vielleicht war ich zu der Zeit schon so langsam, dass ich nur noch umgefallen bin. Vielleicht stürzte ich nach dem zweiten Kontakt mit der Mauer auch. Ich weiß es tatsächlich nicht mehr. Das nächste an das ich mich erinnern kann, ist dass mein Rad auf dem Bogen lag, ich daneben stand und sah, wie eine meiner Wasserflaschen die Strasse runterrollte. „Scheiße die brauchte ich unbedingt zum Weiterfahren“, dachte ich mir und rannte ihr hinterher. Als ob ich keine anderen Probleme hatte. Zurück an meinem Rad brummte mir dann erstmal der Schädel und ich lehnte mich mit dem Kopf gegen die Wand. Jetzt erst realisierte ich, was eigentlich passiert war und ich brauchte einen Moment um mich von dem Schock zu erholen. Lobend möchte ich noch erwähnen, dass mich ein vorbeifahrender Radler fragte, ob alles ok sei, was ich bejahte. Der erste Gedanke war aber trotzdem, das war es dann wohl. Aber nach kurzer Zeit merkte ich, dass zumindest mein Schädel keinen Schaden genommen hatte. Die Schulter hatte dagegen einiges mehr abbekommen und schmerzte ordentlich. Aber irgendwie wollte ich nicht, dass meine Herausforderung Ötztaler Radmarathon so enden würde. Außerdem hatte ich keine Ahnung, wie lange ich hier auf einen Besenwagen warten müsste. Also beschloss ich, es erstmal auf dem Rad weiter zu versuchen.
Ich stieg auf mein Rad und stellte fest dass ich vorne einen Platten hatte. Na toll, also auch noch Schlauch wechseln. Aber das war nun auch egal. Ich hatte ohnehin andere Probleme als meine Zielzeit einzuhalten. Durchkommen lautete ab jetzt die Perspektive. Ich wechselte also meinen Schlauch und setzte dann vorsichtig meine Fahrt fort. Natürlich fuhr ich jetzt äußerst vorsichtig und wurde ständig überholt. Aber das war mir in dem Moment ziemlich egal. Ich saß auf dem Rad, hatte zwar Schmerzen, konnte aber bremsen, lenken und schalten, mehr war jetzt nicht wichtig. Nach 6:15 h ereichte ich endlich St. Leonhard und der Anstieg zum Timmelsjoch begann. Ich musste jetzt erstmal für kleine Jungs und verabschiedete mich endgültig von meinen Knielingen. Und verabschieden und endgültig kann man wörtlich nehmen. Irgendwo während des folgenden Anstieges müssen sie mir aus der Trikottasche gefallen sein. Die ersten Kilometer waren noch vernünftig zu fahren. Meine Schulter schmerzte zwar hin und wieder, störte mich sonst aber nicht wirklich. Ich spürte zwar langsam die Müdigkeit in den Beinen, bewegte mich aber immer noch mit der Masse. Manchmal überholte ich, manchmal wurde ich überholt. Das gab mir die Hoffnung, hier noch einigermaßen vernünftig durchzukommen.
Nach 7 Kilometer folgte dann das erste Steilstück mit knapp 10% über 3 Kilometer. Die Geschwindigkeit sank jetzt öfters auch mal unter 10 km/h. Als ich mal wieder aufs größte Ritzel schalten wollte, fiel mir die Kette wieder runter. Kaum saß ich auf dem Rad, passierte es schon wieder. Jetzt hatte ich die Schnauze voll. Dann würde ich mir den größten Gang eben sparen. Wenn andere hier mit Heldenkurbel hochkommen, würde ich das auch mit 30-23 schaffen. Ich überstand das Steilstück einigermaßen gut. Für die nächsten vier Kilometer ging die Steigung jetzt leicht zurück und ich freute mich schon auf das Flachstück vor der Labe Schönau. Es dauerte zwar wieder länger als erhofft, aber irgendwann war es erreicht. Anders als noch 2010 fuhr ich jetzt ganz entspannt, ich konnte ohnehin nichts mehr gewinnen. Die Labe sparte ich mir dafür ganz. Ich hatte noch eine volle Flasche, das dürfte bis zur letzten Wasserstelle kurz vor dem Gipfel reichen. Ich würgte mir noch mal einen Riegel und ein Gel während der Fahrt rein und hatte ansonsten keinen Blick auf das Drum herum an der letzten Labe. Es folgten zwei Kilometer mit ca. 7 % die aufgrund heftigen Gegenwindes aber anstrengend genug waren. Dann begannen bei der Überquerung des Timmelsbaches und der Wendung der Strasse nach Süden die gefürchteten letzten Kilometer am Timmelsjoch.
Wenigstens merkte ich hier jetzt deutlich den Rückenwind und so konnte ich trotz der Steigung noch teilweise über 10 km/h fahren. Ich spürte hier, fast genau an der gleichen Stelle wie vor zwei Jahren erstmals ein leichtes Zucken im Oberschenkel und musste meine ohnehin geringe Geschwindigkeit weiter reduzieren. Normalerweise wäre ich hier sofort in den Wiegetritt übergegangen. Doch aufgrund meiner lädierten Schulter konnte ich das nur für wenige Meter. Es musste also so irgendwie gehen. Die ersten zwei steilen Kilometer überstand ich dennoch ganz gut. Es folgte ein kurzes Stück mit nur 6% Steigung im Schnitt, ehe die erste Serpentinengruppe den finalen Schlussanstieg einläutete. Hier war auch die letzte Wasserstelle und da ich kaum noch Wasser hatte, hielt ich kurz an und ließ mir meine Flasche noch einmal füllen. Ab nun waren über drei Kilometer mit fast 10 % im Schnitt zu bewältigen. Was ich auf diesen letzten steilen Kilometern erlebte, war dann wohl das Heftigste, was ich bisher überstehen musste. Und das hatte nur bedingt mit der Steigung oder meiner Verletzung zu tun. Es gab Gegenwind der übelsten Sorte. „Naja, halb so schlimm“, könnte man nun denken. Schließlich befand ich mich ja in Serpentinen und das müsste bei ständigen Richtungswechseln ja auch immer wieder Rückenwind bedeuten. Aber weit gefehlt. Keine Ahnung wie so etwas möglich war. Gerade noch so hatte ich mich auf der ersten Geraden bis zur Kurve gequält und freute mich darauf, nun den Wind im Rücken zu haben, da wurde ich maßlos enttäuscht. Kaum um die Spitzkehre herum, pfiff mir der Wind schon wieder ins Gesicht. Hier war jetzt nur noch Kämpfen angesagt. Und nicht nur die Geschwindigkeit sondern auch die Temperaturen sanken jetzt immer tiefer.
Nach der letzten Serpentine der ersten Gruppe wendete sich der Pass wieder nach Norden und ich durfte bei heftigem Gegenwind weiter mächtig arbeiten. Nach schier endlosen Minuten erreichte ich endlich wieder eine Spitzkehre. Endlich durfte ich nun für kurze Zeit leichten Wind von hinten spüren. Aber obwohl die Strasse hier fast geradeaus ging, dauerte es nicht lange, ehe der Wind wieder drehte und mir ins Gesicht blies. Ich näherte mich einem Fahrer vor mir und sah verdutzt die Startnummer 2 vor mir, Antonio Corradini, der Sieger von 2010! Der Sprecher am Start hatte ihn noch explizit erwähnt. Scheinbar hatte er seine Semi-Pro Karriere in Italien beendet, innerhalb von einem Jahr 10 kg zugelegt und war jetzt nur noch just for fun unterwegs. Trotzdem war es natürlich ein tolles Erlebnis ihn auf der Strecke zu treffen und es lenkte wenigstens ein wenig von den Qualen ab, die hier zu erleiden waren. Wir wechselten uns kurze Zeit in der Führung ab, ehe er noch einmal davonzog. Dann folgten die letzten Serpentinen vor dem Tunnel. Mittlerweile hatte sich zum Wind auch noch heftiges Schneegestöber gesellt. Als ich nach der ersten Spitzkehre wieder Richtung Norden und somit entgegen der eigentlichen Windrichtung fuhr, erwischte mich eine heftige Böe. Meine Geschwindigkeit sank auf unter 6 km/h und ich klickte bereits mit dem Fuß aus, weil ich dachte ich stehe gleich. Noch eine Böe mehr und es wäre auch soweit gewesen. So konnte ich gerade noch weiterfahren. Ein Mitbewohner meines Hotels in Sölden erzählte mir später, dass er die letzten 500 Meter vor dem Tunnel gelaufen war. Er hatte auf dem Rad fahrend auf den Tacho geblickt und gesehen, dass er nur mit 6 Stundenkilometer unterwegs war, da dachte er sich, da kann ich auch gleich laufen.
Ich kämpfte mich bis zur zweitletzten Kehre und mobilisierte mit einem lauten Schrei die letzten Reserven. Dann kam endlich die letzte Kurve und ich konnte die Einfahrt zum Tunnel erkennen. Dort dürfte es wohl kaum Wind haben. Trotzdem waren auch die letzten Meter dorthin noch einmal richtig hart. Im Tunnel zogen sich nun etliche Radler ihre Regenjacken über. Obwohl ich eigentlich längst nicht mehr auf Zeit fuhr, verzichtete ich zunächst darauf. Am Ende des Tunnels merkte ich aber, dass das keine gute Idee war. Die Temperaturen dürften zu der Zeit nur knapp über 0° gelegen haben. Nicht die wirklich besten Voraussetzungen um eine halbstündige Abfahrt im Kurzarmtrikot zu absolvieren. Ich hielt also an und fummelte meine Regenjacke aus der Satteltasche, scheiterte beim Anziehen aber kläglich. Die Schmerzen in der Schulter waren zu stark. Ich fragte einen Mitradler, ob er mir beim Anziehen helfen könnte, was er auch ohne zu Zögern tat. So ging es dann auf die letzten Meter bis zur Passhöhe. Nach 8:37 war auch der letzte der vier Pässe absolviert. Ich lag damit 12 Minuten hinter meiner Sollzeit. Kurz nach der Passhöhe musste ich erneut anhalten. Es war nun so kalt, dass ich meine Finger nicht mehr spürte. So konnte ich unmöglich abfahren. Also Handschuhe anziehen. Auch daran scheiterte ich und musste einen Helfer vom Roten Kreuz bitten, mir die Dinger überzustreifen.
Dann ging es endlich auf die Abfahrt. Nachdem ich vor zwei Jahren hier noch über 80 km/h erreicht hatte, kam ich diesmal nur selten über 50 km/h, zu stark bremste mich der Gegenwind. Doch auch der Gegenanstieg an der Mautstelle lief bei weitem nicht so flüssig wie vor zwei Jahren. Damals war ich, wohl auch euphorisiert durch die gute Zeit quasi an meinen Mitstreitern vorbeigeflogen. Diesmal ging gar nichts mehr. Ich schaute weder auf den Tacho noch auf die Strecke. Ich blickte einfach vor mich ins Nichts und stampfte vor mich hin. So wurden auch die letzten Höhenmeter bezwungen. Der Rest der Abfahrt stellte dann keine größeren Probleme mehr dar und nach 9:20h erreichte ich das Ziel in Sölden. Es war verglichen mit 2010 ein absolut emotionsloser Zieleinlauf. Ich konnte mich weder darüber freuen, dass ich trotz Sturz und Verletzung gefinisht hatte, noch mich darüber ärgern, dass ich mein eigentliches Ziel klar verfehlt hatte. Ich war einfach nur froh, dass es vorbei war. Ich fragte den nächstbesten Helfer, wo ich hier einen Arzt finden würde und er zeigte mir eine Arztpraxis direkt gegenüber dem Zieleinlauf. Also stiefelte ich dort samt meinem Rad hinein. Ich schilderte kurz was mir passiert war und sofort wurde mir freundlich geholfen. Erstmal mussten die ganzen Klamotten ausgezogen werden, was ich ohne Hilfe nicht geschafft hätte. Kaum stand ich da mit Oberkörper frei, begann ich natürlich sofort zu frieren. Ich wurde an der Schulter geröntgt und bekam einen Eisbeutel. Wenig später erhielt ich die Diagnose. Schultergelenksprellung und Bänder angerissen oder gezerrt, nichts gebrochen. Da fiel mir erstmal ein Stein vom Herzen. Ich bekam noch eine Stützbandage angelegt und wurde entlassen. Jedenfalls fast. Man wollte mich so nicht gehen lassen und wollte mir ein Taxi rufen. Also durfte ich mich auf einer Liege erstmal hinlegen und wurde mit Decken zugedeckt. So wurde mir zumindest schnell wieder etwas wärmer. Kurze Zeit später hieß es dann, dass über die Strecke derzeit keine Taxis fahren durften, ich würde mit dem nächsten Rettungswagen mitgenommen. Nach fast einer Stunde Wartezeit hatte ich dann aber genug. Ich war mit der Verletzung schließlich übers Timmelsjoch gefahren, dann würde ich auch die 2 km bis zum Hotel überstehen. Das akzeptierte dann auch der Arzt und ließ mich gehen.
Wenig später kam ich dann im Hotel an, zog mich mit Mühe aus und duschte erstmal. Abends lief ich dann noch mal zur Arena, machte mich über das Pasta-Buffet her und holte mein Finisher-Trikot ab. Wirklich gelungenes Design dieses Jahr, wenn nur nicht die ekelhafte Red-Bull-Dose hinten aus der Tasche schauen würde. Danach ging es wieder ins Hotel und ins Bett. Die Nacht war dann richtig übel, an Schlaf nicht zu denken, zu stark waren die Schmerzen. Irgendwann morgens nickte ich aber doch noch ein. Dementsprechend fertig wachte ich am nächsten Tag auf. Ich packte meine Sachen und fuhr nach Hause. Wenigstens klappte das einigermaßen, lenken war kein Problem, nur das Schalten bereitete mir Probleme. Irgendwann in der Woche danach schaute ich mir die Ergebnisliste an und wollte mal schauen, wo denn der Corradini gelandet war. Da traf mich fast der Schlag. Er war zusammen mit Jan Ullrich 5 Minuten vor mir ins Ziel gekommen. Als ich die Zeiten von Ulle dann näher betrachtet, stellte ich fest, dass er wohl am Brenner wieder ewig auf Frank Wörndl gewartet hatte und seitdem immer hinter mir fuhr. Auf der Abfahrt vom Timmelsjoch muss er mich dann überholt haben. Sehr schade dass ich das nicht bemerkt hatte. Mit Jan Ullrich ins Ziel zu fahren hätte was gehabt.
Fazit:
Mal wieder fällt es mir schwer, ein vernünftiges Fazit zu ziehen. Mein Ziel Sub9 habe ich klar verfehlt. Allerdings gab es diesmal einen wirklich triftigen Grund. Letztlich muss ich froh sein, dass der Sturz so glimpflich verlaufen ist. Das hätte auch böse ins Auge gehen können. Direkt danach habe ich mir die Frage gestellt, ob ich solche Veranstaltungen überhaupt noch fahren soll. Diese habe ich inzwischen mit Ja beantwortet. Nächstes Jahr will ich in Sölden wieder am Start stehen und es besser machen. Trotzdem sollte man natürlich aus so einem Sturz die richtigen Lehren ziehen. Ich habe jedenfalls gelernt, dass man auf einer Abfahrt jede Sekunde hochkonzentriert sein muss. Sollte ich wieder einmal meinen, mein Rad überprüfen zu müssen, werde ich rechts ranfahren und anhalten. Die zweite Frage die ich mir stellte, hätte ich es ohne Sturz geschafft, mein Ziel zu erreichen? Schwer zu sagen, es wäre jedenfalls knapp geworden. Und dadurch fuchst mich der Sturz umso mehr. Es wäre am Ende ein Kampf um jede Sekunde geworden. Diesen Kampf hätte ich gerne geführt. Denn mal ehrlich, ich fahre lieber mit den letzten Körnern eine 8:59 als locker und in der Gewissheit mein Ziel zu erreichen eine 8:50. Der Sturz und der Schlauchwechsel haben mich exakt 10 min gekostet. Ich denke mal dass ich auf der Abfahrt weitere 2 min verloren habe, weil ich danach eben extrem langsam bergab gefahren bin. Dann hatte ich am Timmelsjoch noch drei kurze Standzeiten von jeweils 2 Minuten. Einmal für das Befüllen der Wasserflasche an der letzten Labestation und dann die beiden Pausen um die Regenjacke und die Handschuhe anzuziehen. Wenn es wirklich noch um etwas gegangen wäre, hätte ich hier locker 4-5 Minuten sparen können. Last but not least hatte ich nach meinem Schlauchwechsel vorne nur noch knapp 2 bar im Reifen. Das dürfte bei noch 3 Stunden Fahrtzeit auch ein bisschen was gekostet haben. Die restlichen 3 min hätte ich also auf der Strecke rausholen müssen. Wie gesagt, es wäre interessant geworden. Ohne das Wetterchaos am Timmelsjoch hätte es sicher geklappt. Ich habe alleine auf der Abfahrt nach Sölden mehr als 5 Minuten gegenüber 2010 verloren. Aber hätte hätte Fahrradkette. Nächstes Jahr starte ich einen neuen Versuch.
Ansonsten ist und bleibt der Marathon einfach eine tolle und perfekt organisierte Veranstaltung. Einige Kritikpunkte möchte ich aber nicht verschweigen. Die Verlosung der Startplätze und die Möglichkeit der Übertragung der Startplätze an Andere öffnen leider dem Schwarzmarkthandel Tür und Tor. Ich bin mir sicher, dass sich mittlerweile Leute anmelden, die überhaupt nicht vorhaben den Marathon zu fahren. Aber wenn man die Startplätze später für das dreifache verkaufen kann, zahlt man die 2,70 Euro für die Registrierung gerne. Hier sehe ich dringend Handlungsbedarf. Ein bisschen weniger Kommerz würde der ganzen Sache auch gut tun. Und das Starterpaket war auch schon mal sinnvoller zusammengestellt. Aber das ist Jammern auf hohem Niveau. Zu hoffen bleibt noch, dass nächstes Jahr nicht wieder an der Preisschraube gedreht wird. Eine Preiserhöhung von 20% ohne nennenswerten Grund ist schon fast unverschämt. Aber so lange etliche Sportskameraden Oma, Opa, Hund, Katze und Maus registrieren um die eigenen Chancen zu erhöhen und so auf 4.000 Startplätze fast 20.000 Registrierte kommen, dürften Angebot und Nachfrage die Preise weiter in die Höhe treiben.